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Wir sind immer noch nicht ganz
bei den Schildpatt-Katern und noch ein ganzes Stück von den
"fruchtbaren" Ausnahmen entfernt. Sie fragen sich
sicherlich, warum wir uns gerade mit der Farbe Orange und
mit der Zeichnung Schildpatt so ausführlich beschäftigen und
dazu auch noch auf die Ausnahmen so viel Wert legen. Ein
Sprichwort sagt: "Ausnahmen bestätigen die Regel". Für die
Naturwissenschaften, also auch für die Biologie und
insbesondere die Genetik, läßt sich diese Aussage noch viel
weiter fassen. Erst durch Ausnahmen wird der Blick auf den
tieferen Sinn der Regelmäßigkeit entschleiert. Und oft genug
sind es gerade die Ausnahmen, die uns den Weg weisen, eine
Regel zu suchen. Deshalb bleiben wir unbeirrt auf der Suche
nach dem Schildpatt-Kater und eröffnen uns damit den
Horizont, auch andere Abweichungen von den Regeln der
Vererbung richtig zu erkennen und zu bewerten.
Die wichtigsten Vorarbeiten haben wir schon erledigt. Als
Mutter, bei der in der Meiose-I ein Nondisjunction
stattfinden soll, nehmen wir natürlich eine Schildpatt-Katze
(Ox/ox).
Warum das natürlich ist, das können Sie leicht selbst
herausfinden. Versuchen Sie mit einer "roten" oder
"schwarzen" Katze (gleiche Definition wie in Teil 13, Heft
2/94) dieselben Eizellentypen durch Nondisjunction zu
erreichen, wie in nachfolgendem Schema angegeben. Das wird
nicht gehen. Aber die eine Hälfte genau dieser
Eizellen-Typen bilden die Grundlage für die Entwicklung
eines Schildpatt-Katers.
Nondisjunction in der Meiose I und Befruchtung mit
normalen Spermien eines nicht-orange Katers (Bild rechts).
Da haben wir an zweiter Position den Kater in Schildpatt.
Sein Genotyp verheißt allerdings nichts Gutes, er wird alle
Folgen des Klinefelter-Syndroms tragen und damit vor allem
unfruchtbar sein. Aber lassen wir das erst einmal und
schauen danach, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein solches
Ereignis denn eintreten wird. Dazu braucht es nicht viel
Mathematik. Insgesamt zeigt nur eines unter 600 neugeborenen
Kätzchen eine deutliche Chromosomenanomalie, die von einem
Nondisjunction ausgeht. Und davon ist nur jedes dritte ein
Kater. Oder anders ausgedrückt: Von einer Schildpatt-Katze
kann man mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:1800 einen
Schildpatt-Kater als Nachkommen erwarten. Interessant ist,
daß mit der gleichen Wahrscheinlichkeit immer mal wieder
Katzen in schildpatt oder "schwarz" auftauchen, die sich
unnormal entwickeln und unfruchtbar sind. Die Erklärung
dafür ist, daß es sich um Superfemales oder Turner-Katzen
handelt. Sie haben die gleiche genetische Herkunft wie der
Klinefelter-Kater in Schildpatt.
Der Aberrationstyp läßt sich übrigens sehr leicht durch eine
einfache Blutuntersuchung bestimmen. Katzen haben
normalerweise ein Barr-Körperchen, Kater keines. Dagegen
haben Schildpatt-Kater eines, Superfemales zwei und
Turner-Katzen kein Barr-Körperchen. Was wir bis jetzt immer
noch nicht haben, ist der fruchtbare Schildpatt-Kater.
Betrachten wir noch eine andere Kreuzung: Schild-patt-Katze
mit Nondisjunction und "roter" Kater.
Nondisjunction in der Meiose I und Befruchtung mit normalen
Spermien eines orangen Katers (Bild links).
Sie haben es sicher
vorausgesehen, das Ergebnis ist fast gleich. Nur die
Turner-Katze ist jetzt nicht "schwarz", sondern "rot". Auf
jeden Fall wird deutlich, daß auch noch so exotische
Ausnahmen die Grundregeln nicht außer Kraft setzen: Ein
"rotes" Mädchen hat noch immer einen "roten" Vater und ein
"schwarzes" Mädchen einen "schwarzen" Vater. Und weil
X-chromosomale Aberrationen immer noch häufiger sind als
autosomale Aberrationen, gibt es gerade bei "rot"- und
Schildpatt-Zuchten immer wieder einmal unfruchtbare Tiere
mit abnormalem Wachstum von bisher unauffälligen Eltern.
Deren Herkunft können wir jetzt ganz gut nachvollziehen.
Um jetzt tatsächlich zu dem "fruchtbaren" Schildpatt-Kater
zu kommen, müssen wir zu dem seltenen Fall des
Nondisjunction in der Meiose den noch selteneren Fall eines
Nondisjunction in der Mitose hinzufügen. Sie sehen, die
Sache wird immer unwahrscheinlicher. Da es ihn aber dennoch
gibt und da die Diskussion um seine Entstehung unseren Blick
und unser Verständnis für die genetischen Grund-lagen
schärft, lassen wir uns nicht abbringen. Die befruchtete
Eizelle, aus der der Schildpatt-Klinefelter-Kater
heranwächst, hat in jedem Fall den Genotyp (36 As + Oxoxy),
also insgesamt 39 statt 38 Chromosomen. Was kann nun
passieren? Wenn alle Mitosen normal verlaufen, dann haben
wir einen unfruchtbaren Schildpatt-Kater mit allen Symptomen
des Klinefelter-Syndroms.
Störungen der Mitose sind, vor allem in der
Embryonalentwicklung, sehr selten. Asymmetrische Mitosen
durch Nondisjunction sind jedoch bei unbalancierten Systemen
wie dem Klinefelter-Syndrom häufiger als bei Tieren mit
normalem Chromosomensatz. Hier ist es natürlich nicht so,
daß sich gepaarte Bivalente nicht trennen, wie das in der
gestörten Meiose der Fall ist. Bei der Mitose gibt es ja gar
keine Homologenpaarung. Bei der Mitose werden jeweils die
beiden Chromatiden eines Chromosoms voneinander getrennt und
zu den beiden Zellpolen transportiert. Durch die
unausgewogene Chromosomenzahl kann es passieren, daß die
Trennung entweder gar nicht erfolgt und die beiden
Chromatiden eines Chromosoms gemeinsam zu dem einen oder
anderen Zellpol gelangen. Oder aber die Trennung der beiden
Chromatiden eines Chromosoms erfolgt zu langsam, die neue
Zellmembran wird zu früh eingezogen und die beiden
Chromatiden bleiben dann in einer der beiden Tochterzellen
liegen. In beiden Fällen bekommt eine Tochterzelle eine
Chromatide zuviel, die andere eine zu wenig. Jetzt geht es
ganz normal weiter. Von jeder Chromatide wird eine
identische Kopie hergestellt und jedes Chromosom besteht
wieder aus zwei absolut identischen Chromatiden. Das
Ergebnis einer solchen asymmetrischen Mitose sind zwei
Tochterzellen, die nicht nur unterschiedliche Genome
enthalten, sondern die Genome der beiden Tochterzellen
unterscheiden sich auch vom Genom der Ausgangszelle. Die
eine Tochterzelle hat ein Chromosom weniger als die
Ausgangszelle, die andere hat ein Chromosom mehr. Oder, um
auf unser System zurückzukommen: Aus einer gewöhnlichen
Klinefelter-Zelle (36 As + XXy) entstehen durch
Nondisjunction in der Mitose eine normale Zelle (36 As + Xy)
und eine andere Form der Klinefelter-Zelle (36 As + XXXy).
Die normale Zelle ist sowieso lebensfähig und die beiden
Klinefelter-Zellen bedingt durch den
Lyon-Inaktivierungsmechanismus auch. Die eine Form hat dann
ein Barr-Körperchen, die andere zwei. Allerdings ist die
zweite Form deutlich weniger fertil und die von ihr
abstammende Zellinie wird bald zugrunde gehen.
Wenn eine asymmetrische Mitose sehr früh in der
Embryonalentwicklung passiert, dann haben wir einen sehr
interessanten Kater vor uns. Er besteht nämlich aus zwei
oder seltener aus drei Zelltypen: normale männliche Zellen
mit dem Orange-Allel (36 As + Oxy)
oder dem Nicht-Orange-Allel (36 As + oxy),
Klinefelter-Zellen mit einem Barr-Körperchen (36 As + Oxoxy)
und eventuell Klinefelter-Zellen mit zwei Barr-Körperchen
und den Genotypen (36 As + OxOxoxy)
und (36 As + Oxoxoxy).
Alle Zelltypen können durch den
Lyon-Inaktivierungsmechanismus zur Schildpatt-Bildung
beitragen. Man nennt solche Tiere auch Mosaik, da sie aus
mehreren Zelltypen "zusammengesetzt" erscheinen. Sie sind
aber nicht zusammengesetzt, sondern die genetisch
unterschiedlichen Bereiche sind durch asymmetrische Mitosen
entstanden. Daher ist der Begriff "Chimäre" hier fehl am
Platz, denn bei Chimären handelt es sich um Organismen, die
durch Genmanipulation tatsächlich aus Genmaterial
unterschiedlicher Herkunft meist künstlich "zusammengesetzt"
sind.
Und jetzt
kommt der große Knalleffekt! Wenn eine normale diploide
Zelle aus einer sehr frühen asymmetrischen Meiose zur
Stammzelle der Keimbahn wird, dann ist ein solcher
Mosaik-Kater ein fruchtbarer Schildpatt-Kater. Aber eben
immer noch kein Schildpatt-Zuchtkater, denn die Spermien
können ja, wie jedes andere normale Spermium auch, nur ein
X-Chromosom weitergeben, das entweder die Information Orange
oder Nicht-Orange tragen kann. Der fruchtbare
Schildpatt-Kater vererbt also nicht anders als sein "rotes"
oder "Schwarzes" Pendant.
Das dritte Beispiel in Schema 5 stellt nur der
Vollständigkeit halber ein weiteres Kuriosum dar. Wenn das
y-Chromosom von einem mitotischen Nondisjunction betroffen
ist, dann ergibt die Blutuntersuchung nur Zellen mit jeweils
einem Barr-Körperchen. Das sind nach klassischer Definition
weibliche Zellen, also ein "Kater" mit weiblichen Zellen,
natürlich auch unfruchtbar. Die normalen diploiden, auch
genetisch weiblichen Zelle können natürlich, selbst wenn sie
in die Keimbahn eingehen, auch im umgebenden "männlichen"
Milieu keine Spermien bilden.
Das war der lange Weg zum Schildpatt-Kater. Aber nicht das
Ergebnis ist an dieser ausführlichen Darstellung wichtig,
sondern das Verständnis für außergewöhnliche Ereignisse, die
in der Genetik gar nicht so selten sind. Viele unerwartete
züchterische Resultate verlangen nicht nach neuen
Erklärungen, sie sind nur Ausnahmen von schon vorhandenen
Regeln. Wenn wir das jeweils erkennen, dann können wir uns
den folgenden Satz zunutze machen: Die Ausnahmen "erklären"
die Regel oft viel besser als die Regel selbst.
mit freundlicher Genehmigung des Autors
Dipl. Biologe R.
Fahlisch
"Dreamhunter Cattery"
Das Copyright für den oben genannten Text, liegt sowohl beim
Autor des Textes Herrn R. Fahlisch, sowie bei dem Betreiber
dieser Seiten, Frau Ute Kunze. Eine Vervielfältigung oder
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gedruckten Publikationen ist ohne ausdrückliche Zustimmung
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